Ronny Nenniger
Es ist ein ganz normaler Sonntag, nur die Sonne scheint vielleicht etwas wärmer, als es sich für ein Wochenende im März gehört. Die Nachrichten berichten über den Flug MH370 der Malaysia Airlines, der am Vortag plötzlich von den Radarschirmen verschwunden ist. Ramon Zenhäusern liegt im Weltcup Slalom von Kranjska Gora nach dem 1. Lauf auf Rang 26. Helene Fischer hat es gerade mit ihrem Song «Atemlos» in die Top-Ten der Schweizer Hitparade geschafft.
Im Auto von Ronny Nenniger tönt aber Globi aus den Lautsprechern. Die Hörspiel-CD ist ein Favorit seiner Kinder. Die beiden sind 3 und 5 Jahre alt und wenn der Schauspieler Walter Andreas Müller mit hoher Stimme die Abenteuer des neugierigen blauen Vogels spricht, scheint ihnen die Fahrt von Zürich nach Solothurn kürzer.
Die Uhr zeigt kurz vor 12 Uhr mittags. Die Familie ist auf der Autobahn A1 unterwegs zu Nennigers Mutter. Die Kinder sitzen hinten im Wagen, Nennigers Frau auf dem Beifahrersitz. Der Verkehr läuft flüssig, der Tacho auf dem schwarzen Volvo XC60 des damals 38-jährigen Journalisten misst 110 Kilometer pro Stunde.
«Plötzlich sah ich aus dem Augenwinkel etwas», sagt Nenniger. Von rechts, von der Auffahrt Birrfeld, schiesst ein Wagen heran. Viel zu schnell. Über die Sperrfläche, einfach gerade aus. Ein junger Mann, der die Kontrolle über die Limousine seines Vaters und sich selbst verloren hat. Nenniger bleiben nur Sekundenbruchteile, um zu reagieren. Er ruft noch: «Achtung, jetzt chlöpfts».
Dann, ein unbeschreibliches Geräusch, ein höllischer Lärm in dem alles verschmilzt. Angst, Hoffnung, Sekunden, Ewigkeit. Der Raser hat die Familie gerammt, ihr Fahrzeug wird gegen die Mittelleitplanke geschleudert. Das Auto überschlägt sich seitlich, schrammt über die Fahrbahn. «Es war wie in einer Waschmaschine», sagt Nenniger. «Man war oben, unten, rechts, links.» Tun kann er nichts. Während die Fliehkraft ihn in seinen Sitz drückt, denkt er: «Bitte, lass das alles gewesen sein». Und meint: Kein Feuer, kein Lastwagen, der nicht mehr rechtzeitig ausweichen kann. Schliesslich kippt der Volvo wieder zurück und kommt endlich zum Stillstand. Erst jetzt fangen die Kinder an zu weinen. «Das Auto sah aus, als hätte eine Bombe es getroffen», sagt Nenniger. Er riecht ätzend nach verbranntem Gummi, alle Airbags sind aufgegangen. Aus dem CD-Spieler tönt eine Stimme. Globi. Nenniger schaltet sie aus.
Angehörige der Heerespolizei, die den Unfall beobachtet haben, eilen der Familie sofort zu Hilfe, sprechen beruhigend auf sie ein, regeln den Verkehr. «Ich funktionierte nur noch», sagt Nenniger. «Ich wollte alle aus dem Auto raus haben, weil ich fürchtete, dass es zu brennen anfängt.» Und gleichzeitig weiss er:
«Wir hatten mehr als 1'000 Schutzengel.»
Noch bevor der Krankenwagen kommt, nähert sich der Unfallfahrer. Er küsst die Kinder auf den Kopf. Die Ambulanz bringt die Familie ins Kantonsspital Baden. Alle vier sind bis auf ein paar blaue Flecke nahezu unversehrt. «Die Kinder haben gleich wieder gespielt, als ob nichts gewesen wäre.»
Später, als Nenniger auf einem Werkhof noch einige persönliche Gegenstände und Dokumente aus dem Wrack seines Wagens holt, wird ihm klar, wie nahe die Katastrophe, an jenem Sonntag, dem 9. März 2014, tatsächlich war. Das Aluminium an den Felgen des Volvos ist durch die enorme Hitze geschmolzen. Die Dachkante, die über den Asphalt schlidderte, komplett abgefräst. Die Fenster hinten, wo die Kinder sassen, eingedrückt. Und trotzdem wurden weder Tochter noch Sohn von einem einzigen Glassplitter getroffen. «Ich weiss, das ist jetzt Werbung», sagt Nenniger.
«Aber der Polizist, der am Unfallort war, hat uns gesagt, dass wir froh sein können, dass wir in einem Volvo sassen. Ein anderes Auto hätte es vielleicht über die Absperrung auf die Gegenfahrbahn in den entgegenkommenden Verkehr geschleudert. Dann wäre alles aus gewesen.»
Der Raser, der fast eine Tragödie verursacht hätte, hat sich Wochen später telefonisch bei Ronny Nenniger gemeldet. «Er wollte sich entschuldigen. Aber was sollte ich ihm sagen?»