Es sind extreme Situationen, denen sich Sid und Stan Tag für Tag aussetzen. Sie fahren mit voller Wucht gegen Wände, geraten in Auffahrunfälle, überschlagen sich mit ihren Autos. Sid, der «Side Impact Dummy», und Stan, der «Standard Man», sind Simulationspuppen, die in der Autoentwicklung eingesetzt werden. Sie tragen dazu bei, die Sicherheit von Fahrzeugen zu überprüfen und zu verbessern.
Sid und Stan sind 1,78 Meter gross und 80 Kilo schwer. Durchschnittsmasse, denkt man. Durchschnittsmasse, dachten sich auch Entwickler, Hersteller und Gesetzgeber für lange Zeit. Viele denken das sogar bis heute.
Eine folgenschwere Fehlüberlegung. Crashtest-Dummies sollen vor allem die Biomechanik des Körpers abbilden. So lassen sich bei Aufprallversuchen die Verletzungen errechnen, die ein Mensch als Passagier davonträgt. Aber die meisten Dummies bilden nur eines ab: Den Durchschnittsmann.
Frauen, Kinder, Schwangere, alte Menschen, Übergewichtige haben jedoch einen anderen Körperbau als Stan. Gewicht und Grösse unterscheiden sich, Gewichtsverteilung, Muskelmasse, Bewegungsabläufe sind anders.
«Ich war selbst überrascht», so Caroline Criado Perez. Für ihr vor kurzem erschienenes Buch «Invisible Women. Exposing Data Bias in a World Designed for Men» recherchierte sie drei Jahre lang geschlechtsspezifische Datenlücken.
«Es ist schwer zu verstehen, dass nicht schon vor Jahren Tests mit weiblichen Dummies vorgeschrieben wurden». Als Erklärung meint sie:
«Das ist keine grosse Verschwörung von Männern gegen Frauen. Es ist einfach nur das Versagen, sich daran zu erinnern, dass 51 Prozent der Weltbevölkerung existieren»
Ein Versäumnis mit verheerenden Konsequenzen. Forscher der Universität von Virginia untersuchten 45'445 Verkehrsunfälle und kamen zum Schluss, dass die Gefahr, bei einem Autounfall schwere Verletzungen davonzutragen, für Frauen um 47 Prozent höher lag. Als Ursachen nannten die Wissenschaftler die Unterschiede in Körpergrösse und Sitzposition, dass Kopfstützen nicht die Form und Grösse weiblicher Nacken berücksichtigen und sich Sicherheitsvorkehrungen in Fahrzeugen zu sehr nach dem männlichen Körperbau richten.
Wissenschaftler aus Bayern und Baden-Württemberg kamen zu fast identischen Folgerungen wie ihre US-Kollegen, als sie vor drei Jahren schwere Verkehrsunfälle analysierten.
Und Zahlen aus der Schweiz zeigen, dass die Strassen zwar immer sicherer werden - aber sich die Sicherheit für Männer schneller verbessert als für Frauen. Eine Auswertung der Unfalldaten des Bundesamts für Strassen (Astra) ergibt, dass 2017 das Risiko für eine Frau, bei einem Unfall verletzt zu werden, um 50 Prozent höher lag als für einen Mann. Obwohl männliche Autofahrer durchschnittlich mehr und schwerere Unfälle bauten.
Astrid Linder, Professorin und Projektleiterin am Nationalen Institut für Strassen- und Verkehrsforschung Schwedens, kennt die Problematik genau. Sie forscht seit mehr als 20 Jahren zum Thema Sicherheit. 2012 entwickelte Linder gemeinsam mit ihrem Team Eva Rid, den ersten weiblichen «Rear Impact Dummy». Eva ist 1,66 Meter gross, 62 Kilo schwer, ihre Masse, die Dicke ihres Halses, die Beweglichkeit ihrer Wirbelsäule, entsprechen den Daten einer Durchschnittsfrau. Für ihre Arbeit wurde Linder in Europa und den USA mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Aber nicht überall haben die Erkenntnisse, dass Frauen bei Verkehrsunfällen ein höheres Verletzungsrisiko tragen, Folgen. Linder stellt fest, dass bei vielen Autoherstellern – und auch bei vielen von den Behörden vorgegebenen Sicherheitstests – männliche Crashtest-Dummies weiterhin die ganze erwachsene Bevölkerung repräsentieren.
«Aber wenn man die Sicherheit aller ernst nimmt, muss man die Unterschiede des männlichen und des weiblichen Körpers berücksichtigen»
sagt Linder.